Stark-Watzinger: „Die Schulen müssen offen bleiben!“
Der Deutsche Bundestag hat am 22. September 2022 über pandemiebedingte Lernrückstände bei Kindern und Jugendlichen debattiert. Was gegen diese Lernrückstände hilft, das machte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger in ihrer Rede deutlich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Frau sagte neulich im Interview zum Schuljahresbeginn in Bayern: Ich wünschte mir, dass Ministerpräsident Söder nicht nur Bäume umarmt, sondern auch Kinder. - Nicht dass sie mich jetzt falsch verstehen: Der Klimawandel ist ein wichtiges Thema, und Herr Söder kann auch Bäume umarmen - auch wenn es ein sehr kontraintuitives Bild ist. Aber diese Verzweiflung zeigt doch eins: Die Menschen haben die Sehnsucht danach, dass Bildung in den von Ihnen regierten Ländern auch endlich Chefsache ist, dass sie die Priorität bekommt, die sie braucht.
Nur zwei aktuelle Befunde: Das Schuljahr 2022/23 startet mit Lehrermangel. Der Deutsche Lehrerverbands sagt: Bis zu 40 000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. In Sachsen-Anhalt sollen jetzt in einem Pilotversuch freitags die Schulen schließen. Dabei wissen wir doch, was es mit den jungen Menschen macht, wenn Schultore geschlossen bleiben.
Zweitens. Im Juli hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erste Ergebnisse des neuen Bildungstrends vorgestellt. Danach kann ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschule nicht richtig Texte erfassen. Ein Drittel kann nicht richtig schreiben.
Ja, Corona hat diese Entwicklung verstärkt. Aber Corona hat das nicht verursacht. Die Kompetenzen sinken seit Jahren. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Das Programm „Aufholen nach Corona“ kann das nicht auffangen. Hinzu kommt: Es fehlen flächendeckende Lernstandserhebungen. Wegen der Freiwilligkeit von Sommerkursen und digitalen Angeboten wissen wir nicht, ob wir diejenigen, die wir erreichen müssen, überhaupt erreicht haben.
„Aufholen nach Corona“ war mit heißer Nadel gestrickt; ja, es musste schnell gehen; das ist verständlich. Aber es ist weder transparent, noch wissen wir, ob wir unsere Ziele damit erreichen. Ein Weiter-so wäre falsch. Wir brauchen nicht weniger als eine Zeitenwende in der Bildung - hin zu wissenschaftlicher Begleitung von Anfang an. Den Eltern und den Kindern geht es nämlich nicht oder nicht nur darum, wie viel Geld wir im Haushalt stehen haben, sondern sie wollen, dass ihre Kinder vor Ort die bestmögliche Bildung bekommen, meine Damen und Herren.
Der Bund hat in einer Ausnahmesituation den Ländern, die ja zuständig sind, unter die Arme gegriffen. Wir haben den Ländern zuletzt noch 1 Milliarde Euro für die Integration der ukrainischen Schülerinnen und Schüler gegeben, unbürokratisch und schnell.
Der Bund unterstützt nicht nur den Ausbau der Ganztagsbetreuung mit 3,5 Milliarden Euro, sondern auch den Betrieb mit bis zu 1,3 Milliarden Euro jedes Jahr. Die Beteiligung des Bundes bedeutet mehr Freiheit für die Länder, um in der Not schnell loszulegen. Aber sie müssen ihrer ureigenen Aufgabe Bildung auch selbst gerecht werden. Was hilft, ist natürlich der Unterricht, der stattfindet, und zwar der beste Unterricht, der möglich ist.
Die Schulschließungen in der letzten Legislaturperiode haben verheerende Schäden angerichtet. Nicht nur Bildung ging verloren, auch psychisch und körperlich tragen unsere Kinder eine schwere Last. Diese Fehlentscheidungen - ich freue mich, dass Sie das heute genauso sehen - lassen sich aber nicht mehr rückgängig machen. Umso wichtiger, dass wir jetzt einen Politikwechsel einleiten. Das heißt:
Erstens. Die Schulen müssen offen bleiben. So viel Normalität für Kinder und Jugendliche wie möglich. Wir dürfen nicht immer nur Rücksicht von ihnen verlangen, sondern müssen auch Rücksicht auf sie nehmen.
Zweitens. Die Schulen müssen arbeiten können. Sie brauchen bestens ausgebildete Lehrkräfte. Dafür gibt es unsere Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Auch die Kompetenzzentren für digitalen und digitalgestützten Unterricht sind bereits auf den Weg gebracht. Jede Schule muss so digital sein wie das Leben ihrer Schüler. Deswegen der DigitalPakt. Dass die Mittel schneller in den Schulen ankommen, dafür setzen wir uns als Koalition ein.
Drittens. Wir wissen, meine Damen und Herren, dass die Lücken bei denjenigen Kindern und Jugendlichen am größten sind, die es ohnehin schwer haben. Deshalb kämpfe ich zusammen mit den Koalitionsfraktionen für das Startchancen-Programm, damit Schulen in schwierigen Lagen besten Unterricht bieten können. Damit bringen wir die nach vorne, deren Potenziale von sozialen Nachteilen überschattet werden.
Als Koalition haben wir uns eine neue Kooperationskultur mit den Ländern vorgenommen. Dazu gehört, dass der Bund sich gezielt dort engagiert, wo er spürbar einen Mehrwert schafft. Ich wundere mich über die reflexhafte Forderung aus der Opposition, der Bund solle mehr Geld an die Länder überweisen. Ich verstehe mich nicht als Anwältin der Landesfinanzminister, sondern als Anwältin der Schülerinnen und Schüler. Es geht um die Qualität, um die Hilfe für einzelne Schüler und um nachhaltige Wirkung. Eine Forsa-Umfrage aus dem September hat gezeigt: 64 Prozent der Bürger halten ein besseres Schul- und Bildungssystem für sehr wichtig. Damit ist Bildung Nummer eins auf der Wunschliste der Menschen in unserem Land.
Das ist ein Auftrag an uns alle. Deshalb arbeiten wir an einem guten Startchancen-Programm statt an einem Blankoscheck mit fraglicher Wirkung. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern wirklichen Wandel im Bildungssystem bewirken. Ich freue mich auf den konstruktiven Dialog mit den Ländern, meine Damen und Herren.